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14.5.2001
Schutzengel
Aus dem Italienischen von Peter Klöss
Maike Albath
Bologna, Via delle Oche, heruntergekommene
Gegend. Ein Toter wird gemeldet. Commissario
De Luca begutachtet den Erhängten: kaum zwanzig,
gebrochene Nase, ehemaliger Boxer, Faktotum
eines Bordells, überzeugter Kommunist. Es
ist ein kühler Apriltag des Jahres 1948,
und die ersten demokratischen Wahlen stehen
kurz bevor. Der ewig von Bauchweh geplagt
Commissario, gerade erst nach Bologna strafversetzt,
vermutet einen politischen Hintergrund. Dazu
Lucarelli:
Er ist ein Typ mit einem eigenen Kopf, er
besitzt bestimmte Ideale. Mehr als von ethischen
Vorstellungen ist er von einer Obsession
getrieben - er will die Wahrheit entdecken.
Ich finde es spannend, mit einer Figur zu
spielen, die per definitionem positiv besetzt
ist: der des Kommissars. Er ist schließlich
derjenige, der ermittelt. Ich grabe nach
den negativen Seiten und forme daraus einen
sehr widersprüchlichen Charakter. De Luca
ist eine positive Figur, weil er den Fall
löst und die Wahrheit ans Licht bringt. Aber
er ist auch negativ, denn er war Polizist
in einer Zeit, in der Polizisten einem brutalen,
grausamen und totalitärem Regime dienten.
Mich interessierte diese Zweischneidigkeit.
Der rote Sonntag heißt der neue Fall von
Commissario De Luca, sein dritter in deutscher
Sprache. Dass es De Luca gibt, ist eher ein
Zufall. Ende der 80er Jahre bereitete Carlo
Lucarelli, inzwischen Verfasser von 15 Romanen,
seine Magisterarbeit in Geschichte vor und
sammelte Material über den Polizeiapparat
während des Faschismus. Die wissenschaftlich
damals kaum erforschte Phase zwischen dem
Zusammenbruch der Diktatur und dem Beginn
der Republik inspirierte den Studenten zu
einem Krimi. Der abtrünnige Examenskandidat
legte die Magisterarbeit ad acta und dachte
sich einen Kommissar aus, der je nach politischer
Lage die Seiten wechselt. De Luca ist zunächst
dem faschistischen Regime verpflichtet und
verhaftet Antifaschisten, für die Partisanen
muss er Faschisten hinter Gitter bringen,
unmittelbar nach Kriegsende wiederum Partisanen,
bis er schließlich bei der Polizei in Bologna
landet und einen kommunistischen Vorgesetzten
bekommt. Im Stadtarchiv und den Bibliotheken
Bolognas fand Lucarelli stapelweise verstaubte
Akten, die Verwicklungen von öffentlicher
Verwaltung, Politikern und Polizei dokumentieren.
Lucarelli:
Ich habe mit dem Schreiben angefangen, weil
ich kein sonderlich guter Historiker geworden
wäre. Es gelang mir nicht, diesen geschichtlichen
Zeitraum mit wissenschaftlichen Kriterien
zu erfassen. Ich fragte mich dauernd, was
passiert wäre, wenn eine bestimmte Person
etwas ganz anderes gesagt hätte, als sie
tatsächlich gesagt hat und was diese Person
sich dabei gedacht haben könnte. Mich interessierte
das, was sich hinter den geschichtlichen
Zusammenhängen verbirgt. Aber genau dieser
Bereich ist nicht Teil der Arbeit des Historikers,
sondern der des Schriftstellers. Sicherlich
habe ich bestimmte wissenschaftliche Arbeitsweisen
für meinen Roman ausgenutzt. So gehe ich
beim Schreiben bis heute vor. Ich recherchiere,
lese sehr viel und ich suche auch immer nach
Zeitzeugen. Ich arbeite aber nicht wie ein
Historiker, sondern wie ein Polizist.
Der verhinderte Kommissar vermittelt in seinen
De-Luca-Krimis Zeitgeschichte - die Bücher
sind klug konstruiert, spannend und - für
dieses Genre besonders wichtig - kaum vorhersehbar.
Gewieften Krimi-Lesern wird Der rote Sonntag
gefallen, denn die Auflösung des Falls wird
nicht wie bei Sherlock Holmes mit erhobenem
Zeigefinger vorgekaut; die Indizienkette
liegt im Dunkeln und muss eigenständig kombiniert
werden. De Luca fördert ein ganzes Netz an
Intrigen zu Tage und deckt die politische
Motivation des Mordes auf, aber die Wahrheit
ist in einer politisch instabilen Lage zweitrangig.
Konsequenzen hat die Aufklärungsarbeit des
melancholischen Kommissars also keine, und
fast jeder, so zeigt sich bald, versteckt
Leichen im Keller, De Luca eingeschlossen.
Durch Zeitungsüberschriften und öffentliche
Verlautbarungen, die fast jedes Kapitel eröffnen,
vermittelt Lucarelli Zeitkolorit und rapportiert
so die angespannte gesellschaftliche Atmosphäre
zwischen Aufbruch und Sehnsucht nach Normalität.
Das italienische Publikum mochte Commissario
De Luca auf Anhieb, der Verlag bestellte
Nachschub und Lucarelli lieferte weitere
Fälle. Eine Provinzzeitung beschloss, ihren
eher langweiligen Lokalteil mithilfe eines
Krimiprofis aufzubessern und kaufte den erfolgversprechenden
Schriftsteller als Journalist ein. Lucarelli:
Meinen dritten Roman habe ich geschrieben,
weil ich als Polizeireporter bei einer Zeitung
beschäftigt war und auf einmal ein Bologna
entdeckte, das ich gar nicht kannte. Es war
nicht mein studentisches Bologna, eine schöne
Stadt mit Partys, Tortellini, Kneipen. Um
dieses neue Bologna erzählen zu können, musste
ich wiederum das Genre des Krimis wählen,
etwas anderes war gar nicht denkbar. Und
viele Autoren meiner Generation haben entdeckt,
dass der Krimi für die Geschichten, die sie
erzählen wollten, - aufregende, ganz konkrete
und reale Geschichten -, die angemessene
literarische Form ist. Krimis können eine
andere Seite der Wirklichkeit aufzeigen.
Es geht nicht darum, von hässlichen und furchtbaren
Dinge zu erzählen. Es ist nicht wichtig,
dass in Bolognina, einem Stadtteil von Bologna,
eine kriminelle Bande ihr Unwesen treibt.
Es geht darum zu erfahren, warum in einem
bestimmten Viertel genau diese Wirklichkeit
existiert, welches die Probleme der Gegend
sind, welches ihre dunklen und versteckten
Eigenschaften sind.
Um dauernd in gammeligen Aktenbergen zu versinken,
eröffnete Lucarelli eine zweite Krimiserie,
die im zeitgenössischen Bologna spielt. Zu
dem aufklärungsbesessenen De Luca gesellte
sich Sovraintendente Coliandro, redlich aber
dümmlich, ähnlich gebrochen wie sein Urahn.
Mit heiserer Stimme und in einem unverwechselbaren
Bullen-Sound ergreift Coliandro in dem gerade
auf deutsch erschienenen Roman Schutzengel
selbst das Wort, verbreitet Allgemeinplätze
über Polizisten, Frauen und das Leben überhaupt,
klopft rassistische Sprüche und landet eher
aus Zufall mal einen Coup. Zum Glück steht
ihm die Punkerin Nikita zur Seite, die seine
schlichte Weltsicht auf eine harte Probe
stellt. Am Ende ist Coliandro sympathischer
als zu Beginn, denn Lucarellis geschickte
Inszenierung ambivalenter Charakterzüge fördert
die menschliche Seite seines Kommissars zu
Tage. Lucarelli:
Offiziell ist Coliandro der Gute in der Geschichte.
Er ist der Inspektor, er ermittelt, er lässt
sich nicht korrumpieren. Gleichzeitig wollte
ich alle Unregelmäßigkeiten, auf die ich
bei der italienischen Polizei gestoßen bin,
in ihn hinein legen, deshalb ist er arrogante,
überheblich, wenig professionell, sexistisch
und rassistisch. Alle Vorurteile treffen
auf ihn zu. Auch in diesem Fall ist es interessant
zu beobachten, was passiert, wenn derjenige,
der einen Fall aufklärt, derjenige, mit dem
sich der Leser identifiziert, an dessen Hand
er durch die Geschichte gleitet, ein unsympathischer
Typ ist. Was ist dann? Ich habe entdeckt,
dass die Figuren merkwürdigerweise immer
stärker sind als der, der sie erfindet. Mein
Urteil über De Luca ist negativ, er hat zwar
eine ethische Vorstellung, aber er hätte
andere politische Entscheidungen treffen
müssen, mein Urteil über Coliandro ist negativ,
er wäre auf gar keinen Fall mein Freund.
Aber am Ende der Romane sind sie irgendwie
immer viel netter und lieber, und am Ende
sind auch sie bloß Opfer.
Schutzengel zählt zu den ersten Versuchen
Lucarellis, eine Geschichte in der Gegenwart
anzusiedeln, und vielleicht ähnelt der Roman
deshalb einer Stilübung. Vergleichbar mit
dem großartigen deutschen Erstauftritt Lucarellis
mit Der grüne Leguan ist die Coliandro-Story
jedenfalls nicht. Denn mit seinem frischen
Erzählton, dem halsbrecherischen Tempo, unzähligen
akustischen Impressionen und den stakkatierten
Gedankenfetzen hatte Lucarelli die eher konventionelle
Gattung regelrecht aufgemischt. Dass auch
hier die Indizienkombination unwichtig ist,
versteht sich von selbst. Auf die Spur eines
grausamen Serienmörders wird ein blinder
Held gesetzt, der Bologna nur mit seinen
Ohren erfasst, was Lucarelli auch formal
spiegelt. Ebenfalls revolutionär für das
italienische Krimigenre war die Erfindung
einer unerschrockenen weiblichen Polizistin,
noch dazu Süditalienerin, die mit Intuition
und aufklärerischem Instinkt dem Leguan hinterher
spürt. So etwas hatte man in dem Macholand
noch nicht gelesen. Lucarellis Romane erreichen
Spitzenauflagen und verkaufen sich zwischen
60. und 80.000 Mal, aber Krimis sind in Italien
sowieso gerade en vogue. Lucarelli:
Der Erfolg des Krimis und auch von Andrea
Camilleri als einem Beispiel hängt meiner
Meinung nach mit bestimmten Bedürfnissen
des Lesers zusammen. Dazu zählen der Wunsch,
die Wirklichkeit kennen zu lernen, ganz bestimmte
Veränderungen, Geschehnisse, wie der Kampf
gegen die Mafia, Tagentopoli, die Korruptionsaffären
und sie erzählt zu bekommen, und sie zu verstehen.
Und der Krimi bemüht sich genau darum. Außerdem
wollen die Leser auch anregende Geschichten
lesen, Geschichten, in denen von Abenteuern
die Rede ist.
Seine neuen Fälle recherchiert der sympathisch
unprätentiöse Bestsellerautor im Polizeimilieu,
wo er regelmäßig hospitiert, und inzwischen
hat man ihn auch für eine Fernsehserie engagiert.
Was in Deutschland wegen der Vermischung
von Zuständigkeiten undenkbar wäre, ist in
Italien ganz normal. Gemeinsam mit einigen
Sachverständigen der Polizei, Spezialisten
der Spurensicherung und Journalisten rollt
der Schriftsteller ungeklärte Verbrechen
neu auf, tritt dann vor die Kamera und trägt
eine Stunde lang die Indizienlage vor. Wenn
Lucarelli gerade mal nicht auf der Polizeiwache
sitzt oder eine Fernsehsendung vorbereitet,
bringt er Studenten bei, wie man Spannung
aufbaut und einen ordentlichen Kommissar
zusammenbastelt. Der umtriebige Bologneser
ist nämlich auch Dozent an der renommierten
Turiner Literaturschule von Alessandro Baricco,
der Holden. Seine Romane entstehen irgendwann
zwischendurch. Lucarelli:
Ich würde es gerne so machen wie die amerikanischen
Schriftsteller und jeden Tag von neun bis
um fünf Uhr schreiben, das wäre wunderbar.
Aber ich kann das nicht. Ich bin unglaublich
viel unterwegs, einmal wegen meiner Recherchen,
dann wegen der Fernsehsendung, weil ich Lesungen
mache, weil ich Verfilmungen meiner Bücher
begutachten muss usw. Mir kommt eine Idee,
aus der erst viel, viel später ein Buch entsteht.
Ich mache einen Vertrag mit meinem Verleger
und habe in der Regel ein Jahr Zeit bis zur
Abgabe des Buches. Es gelingt mir, alle Zeit
zu verschwenden und erst zwei oder einen
Monat vor Abgabeschluss mit der Arbeit anzufangen.
Dann schreibe ich, der Verlag ruft jeden
Tag an und fragt, ob ich fertig bin. Ich
kann natürlich nicht sagen, dass ich nicht
fertig bin, ich sage immer denselben Satz.
"Ja, ich bin fertig, mir fehlen die
letzten beiden Kapitel und ich überarbeite
gerade den Anfang." Auf diese Weise
können sie nicht die ersten Kapitel einfordern,
die ich noch gar nicht geschrieben habe.
Auch jetzt habe ich meinen Computer dabei.
Zwischendurch schreibe ich einen Roman fertig,
von dem der Verlag denkt, er sei längst beendet.//
Das Volldampf-Prinzip tut nicht jedem Roman
gut: manche der Bücher wirken allzu schnell
runter geschrieben, allzu routiniert zusammen
gebastelt. Aber Lucarelli ist eine Entdeckung
wert: seine De-Luca-Fälle und Der Grüne Leguan
zählen zu den besten italienischen Krimis.
Sie sind unkonventionell, voller Stilbrüche
und Perspektivwechsel, aus Polizeiprotokollen,
Zeitungsartikeln und Dialogen zusammen gesampelt,
und sie spielen mit den Gesetzen des Genres.
Der Detektiv ist immer der Leser.